Aktuelles im Detail

Gender-Gap in der Wissenschaft

Prof. Dr. Helena Mihaljević (ECDF / HTW Berlin) ist an der Initiative „Gender Gap in Science“ beteiligt und organisierte vom 18. bis 19. Februar 2019 am Einstein Center Digital Future (ECDF) ein Koordinationstreffen zum Projekt „A Global Approach to the Gender Gap in Mathematical, Computing, and Natural Sciences: How to Measure It, How to Reduce It?“. Das Projekt untersucht auf globaler Ebene die Geschlechter-Lücke in den Naturwissenschaften, in Mathematik und Informatik und stellt dabei die Frage, wie diese gemessen und verringert werden kann.

Was hat Sie motiviert, sich an der Initiative zu beteiligen?
In Disziplinen wie Mathematik oder Physik ist der Anteil junger Frauen, die sich von ihren Fachgebieten abwenden, viel höher als der ihrer männlichen Kollegen. Frauen verlassen ihre Disziplinen in verschiedenen Phasen ihrer akademischen Laufbahn, trotz ihres großen Talents und Interesses an den Themen. Gleichzeitig sind die vorhandenen Daten über die Partizipation von Frauen in MINT-Fächern in den verschiedenen Regionen und Forschungsbereichen oftmals rudimentär, veraltet und inkonsistent. Das macht es schwierig, geeignete Maßnahmen zur effektiven Verringerung der Geschlechter-Lücke zu entwickeln. Als Mathematikerin und Datenwissenschaftlerin wollte ich dazu beitragen, solide, zuverlässige und auch frei nutzbare Daten zu sammeln und zu produzieren, die gleichermaßen von wissenschaftlichen Vereinigungen und anderen Organisationen, aber auch von Einzelpersonen verwendet werden können und letzten Endes eine gezielte Auswahl von Initiativen und Maßnahmen ermöglichen.

Welches Ziel verfolgt das Projekt?
Das Projektziel ist zunächst die Erstellung einer soliden und fundierten Datenbasis, welche die verschiedene Facetten der Beteiligung von Frauen in den betreffenden Bereichen zuverlässig widerspiegelt, und die anschließende Analyse dieser Daten. An dem Projekt unter der Federführung der International Mathematical Union und der International Union of Pure and Applied Chemistry sind elf wissenschaftspolitische Organisationen beteiligt. Wissenschaftlich unterstützt wird das Projekt außerdem von verschiedenen Instituten und Universitäten wie dem American Institute of Physics oder, wie in meinem Fall, der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. In diesem Sinne bauen wir auch ein großes interdisziplinäres Netzwerk auf, um Erfahrungen und Ideen zwischen verschiedenen Fachgebieten auszutauschen und voneinander zu lernen. Ein besonderer Schwerpunkt unserer internationalen Kooperation liegt auf den Entwicklungsländern, so dass wir die Perspektiven von Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Weltregionen von Anfang an aktiv in das Projekt einbezogen haben.
Wir gehen das Projektziel von drei verschiedenen Seiten an: Zunächst haben wir eine globale Umfrage unter Wissenschaftler*innen durchgeführt, wir analysieren und visualisieren Publikationsverhalten anhand bibliometrischer Datenbanken, und wir werden eine frei zugängliche Datenbank ins Internet stellen, die effektive Initiativen zur Erhöhung des Anteils von Mädchen und Frauen in MINT-Disziplinen suchbar macht.

Welche Rolle spielen Sie selbst in dem Projekt?
Ich koordiniere den zweiten Themenbereich, der sich mit der Rolle von Gender in der Veröffentlichungspraxis befasst. Im Rahmen eines früheren Forschungsprojekts habe ich zusammen mit Lucia Santamaria und Marco Tullney mehrere genderspezifische Effekte aufgedeckt, die sich entscheidend auf wissenschaftliche Karrieren auswirken. Beispielsweise haben nachgewiesen, dass Publikationen von Frauen in „renommierten“ Zeitschriften stark unterrepräsentiert sind – in einigen besonders hoch angesehenen Zeitschriften für Mathematik liegt der Frauenanteil bei rund 5 %, ohne dass sich daran in den letzten fünf Jahrzehnten etwas verbessert hätte!
Im aktuellen Projekt bauen wir auf dieser früheren Forschung auf und übertragen Forschungsfragen und -methoden auf andere Disziplinen. Insbesondere werden wir die Wechselwirkungen zwischen Gender und geografischer Lage analysieren, und zwar im Hinblick auf permanente oder temporäre Mobilität, internationale Kooperationen und – abermals – den Zugang zu wichtigen Publikationsmedien.

An der Initiative sind Wissenschaftlerinnen aus aller Welt beteiligt, z.B. aus Frankreich, Südafrika, Taiwan und den USA. Inwiefern unterscheidet sich der Gender-Gap in der Wissenschaft in diesen Ländern von demjenigen in Deutschland?
Die Erwartungen hinsichtlich der Frage, wie „weibliche“ Karrieren auszusehen haben, sind tatsächlich von Land zu Land unterschiedlich. So gilt in Indien und Pakistan Informatik als besser geeigneter Studiengang für Frauen als Ingenieurwissenschaft. In den ehemaligen europäischen Ostblockländern war und ist der Frauenanteil in technischen und naturwissenschaftlichen Berufen gleichbleibend eher hoch. In anderen Ländern, insbesondere in Südeuropa, ist der Frauenanteil in MINT-Fächern an der Hochschule signifikant, nimmt aber beim Übergang in die Arbeitswelt und im weiteren Karriereverlauf drastisch ab. In Deutschland gibt es bereits auf der Ebene des grundständigen Studiums ein ausgeprägtes Gefälle zwischen den Geschlechtern. Hierzulande müssen also dringend Maßnahmen ergriffen werden, damit bereits mehr Schülerinnen in der Sekundarschule Fächer besuchen, die zu einem Studium im MINT-Bereich hinführen.
Sowohl unsere Umfrage als auch die Analysen der Publikationen werden regionale Unterschiede berücksichtigen und so zusätzliche wertvolle Erkenntnisse zur Ergänzung der bereits erzielten Forschungsergebnisse liefern.

Ihre erste Aufgabe besteht in der globalen Umfrage unter Mathematiker*innen, Informatiker*innen und Naturwissenschaftler*innen. Bei Ihrem Treffen am ECDF haben Sie den aktuellen Stand des Projekts vorgestellt. Wie ist der Stand der Dinge?
Die Umfrage war 2018 acht Monate lang offen und wir haben über 32.000 Antworten gesammelt, und das ist ein großer Erfolg! Allerdings ist die Rücklaufquote, auf Regionen und Disziplinen bezogen, ungleichmäßig verteilt: Wir haben besonders viele Antworten von Mathematiker*innen, aber auch von Physiker*innen und Astronom*innen erhalten, dagegen weniger aus Bereichen wie Chemie oder Biologie (verglichen mit den Gesamtschätzungen zur Anzahl der Wissenschaftler*innen in diesen Disziplinen). Was die Regionen angeht, so ist Lateinamerika besonders stark vertreten, gefolgt von Ozeanien, Afrika und Westeuropa.
Die Teilnehmer*innen hatten für die Umfrage sieben verschiedene Sprachen zur Auswahl, so dass die Antworten zunächst übersetzt werden müssen, bevor wir sie verarbeiten und analysieren können. Das wird einige Zeit dauern, aber zur Abschlusskonferenz, die im November am ICTP in Triest stattfinden wird, werden wir eine umfassende Übersicht der Ergebnisse vorlegen.

Was erwarten Sie von der Umfrage?
Die Umfrage bezieht sich auf alle Karrierestufen, von der ersten Ermutigung bei der Wahl des Studienfachs über Erfahrungen während des (Promotions-)studiums bis hin zur aktuellen Beschäftigung. Dabei fragen wir verschiedene Aspekte ab, beispielsweise ob die Teilnehmer*innen ihr Promotionsstudium unterbrochen haben und wenn ja, aus welchen Gründen und mit welchen Auswirkungen. Wir erwarten also ein gleichermaßen umfassendes und detailliertes Bild der Situation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in verschiedenen MINT-Bereichen und geografischen Regionen.
Einige der Fragen ermöglichen es uns, eine Brücke zur Analyse des Publikationsverhaltens zu schlagen. So haben wir in der Umfrage beispielsweise gefragt, wie viele Artikel die Befragten in den letzten fünf Jahren bei einer führenden Zeitschrift in ihrem Gebiet eingereicht haben. Die Antworten auf diese Frage werden uns helfen, besser zu verstehen, an welcher Stelle im Publikationsprozess das beobachtete Ungleichgewicht auftritt.
Wir erwarten, dass die Umfrage Bereiche aufdecken wird, in denen eine Ungleichbehandlung stattfindet – was wiederum bei der Formulierung klarer Empfehlungen für die Verbände hilfreich sein kann. Falls die Umfrage beispielsweise ergeben sollte, dass Frauen wesentlich häufiger von mangelnder Unterstützung betroffen sind (hinsichtlich Labornutzung, Unterstützung durch die Familie, Mentoring, Zugang zu hochrangigen Zeitschriften), so wollen wir das wissen: Solche Erkenntnisse können dann an die relevanten Akteure – Verbände, politische Entscheidungsträger usw. – weitergegeben werden und ihnen helfen, geeignete Maßnahmen zur Lösung der Probleme zu ergreifen.

Was wünschen Sie sich für junge Wissenschaftlerinnen im Hinblick auf den Gender Gap?
Ich wünsche mir, dass in der Wissenschaft Integration und Vielfalt gefördert und neue „Arten des Akademiker*in-Daseins“ unterstützt werden, dass wissenschaftliche Bedeutung schwerer wiegt als Herkunft, persönliche Verbindungen und dergleichen und dass Querdenken, Kreativität und Innovation belohnt werden. Natürlich gibt es nicht den einen Weg, um die Situation junger Frauen in der Wissenschaft zu verbessern, aber verschiedene Maßnahmen könnten helfen: Transparenz in den Auswahlverfahren von Zeitschriften oder bei Einstellungs- und Beförderungsentscheidungen, mehr Festanstellungen, bessere Vereinbarkeit mit dem Familienleben und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konstrukt der „akademischen Exzellenz“, das ein eindeutig geschlechtsspezifisches Konzept ist. Ich bin überzeugt, dass all diese Maßnahmen die Wissenschaft zu einem besseren Ort für uns alle machen würden. (sim)